Verhalten verstehen –
Unternehmen wirkungsvoll gestalten

 
Januar 2019

Die Betriebstemperatur messen - mit Extended DISC

Die Betriebstemperatur messen - mit Extended DISC


von Dr. Thomas K. Heiden

Welche Führungskraft hat dies nicht schon einmal erlebt: Die Leistung einer Abteilung oder gar einer ganzen Firma fällt ab. Die Stimmung wird unterkühlt bis eisig. Bald spiegelt sich das auch in negativen Performance-Kennzahlen wider. Umsatz, Produktivität und Gewinn gehen zurück. Statt systematisch die Ursachen anzugehen, werden Entscheidungen unstrukturiert getroffen. Die Situation verschlechtert sich weiter, es kommt zu einer Abwärtsspirale. Diese endet nicht selten damit, dass die besten Köpfe das Unternehmen frustriert verlassen und die Negativentwicklung immer weitere Kreise zieht.


1. Status quo


Mehr als die Hälfte der 200 Unternehmen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, die im Rahmen der Hewitt/Kienbaum-Studie „Mitarbeiterbefragung – die Trends 2008“ interviewt wurden, gaben an, mindestens alle zwei Jahre eine Mitarbeiterbefragung durchzuführen. Ziel sei es, das Betriebsklima zu evaluieren, um Missstände zu beheben, die Beschäftigten langfristig zu motivieren und sie an das Unternehmen zu binden. Die Studie zeigt jedoch, dass viele Betriebe nach wie vor Schwierigkeiten haben, die theoretischen Ergebnisse für die Praxis zu nutzen. Insbesondere die Ableitung konkreter Maßnahmen, deren Umsetzung und die Erfolgskontrolle stellen viele Betriebe vor große Probleme. So gaben nur 39 % der Studienteilnehmer an, dass ihre Arbeitnehmer die aus der Befragung abgeleiteten Veränderungen klar verstanden haben und in der Praxis umsetzen können. Das offenbart einige der wesentlichsten Schwachpunkte der Mitarbeiterbefragung als Stimmungsbarometer: 


Im günstigsten Fall führen Unternehmen die Befragungen alle zwölf Monate durch, i. d. R. aber eher alle zwei Jahre. Dieser Rhythmus kann nur einen langfristigen Trend aufzeigen. Berücksichtigt man zudem noch die Zeitspanne für Auswertung, Planung und Umsetzung der abgeleiteten Maßnahmen, wird deutlich, dass in der Zwischenzeit oft bereits eine „Abstimmung mit den Füßen“ stattgefunden hat, bevor Veränderungen überhaupt greifen können. 


Durch die Anonymität der Daten werden persönliche Aussagen gemittelt und zum allgemeinen Stimmungsbild kollektiviert. Spezielle Probleme einzelner Teams, Abteilungen und Bereiche sind dann nicht erkennbar und individuelle Lösungsansätze unmöglich. 


Wie lässt sich dieses Dilemma lösen? Ein Ansatzpunkt wäre es, die Befragung höher zu tackten. Dem steht i. d. R. der Kostenrahmen entgegen.
Möglich wäre auch, die Anonymität der Befragung aufzuheben für eine personifizierte Bestandsaufnahme. Aber wie nimmt man den Mitarbeitern die Befürchtungen vor Sanktionen, wenn sie sich kritisch zu Vorgesetzten und Unternehmensführung äußern? Zudem scheitert dies regelmäßig am Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats.


Gebraucht wird also ein Thermometer, das die Stimmung in einem Unternehmensbereich zeitnah und kostengünstig bestimmt sowie die Ursache für Konflikte individuell ermittelt, aber keinen „Offenbarungseid“ der Mitarbeiter erfordert. Es sollte folgende Kriterien erfüllen


–    hohe Zuverlässigkeit der Messung,
–    ausgeprägte Trefferquote in Bezug auf die evaluierten Merkmale,
–    günstiges Kosten-Nutzen-Verhältnis,
–    gezielter, kurzfristiger Einsatz,
–    einfache, mehrsprachige Durchführung,
–    Vermeidung eines „Blaming“-Effekts gegenüber Dritten,– einfache Ableitung individueller Maßnahmen. 


2. Grundlagen des Organisations-Thermometers


Um den Zustand eines Unternehmensbereichs objektiv bewerten zu können, muss man den aktuellen Stimmungszustand aller relevanten Personen kennen und ermitteln, wo er vom natürlichen Stimmungszustand abweicht. Es gilt also, den stressfreien Zustand (= natürlicher Zustand) und den angepassten Zustand (= aktuell gelebter Zustand) zu vergleichen. Die Differenz zeigt die individuelle Problematik. Aus allen ermittelten Individualsituationen entsteht dann ein Kollektivbild. Eine Methode hierfür ist das Extended-DISC®-Verfahren. Es erweitert das bekannte psychologische Modell der vier Grundverhaltensweisen Dominanz, Initiative, Stetigkeit und Konformität um 160 mögliche Mischtypen, um Persönlichkeitsprofile zu beschreiben. Jedem der vier Grundtypen sind elementare Verhaltensmuster zugeordnet: 


Dominanz (D)
steht für Ziele, Ergebnisse, Beschleunigung, harte Werte, Entscheidungen, Veränderungen und Tempo. 


Initiative (I) wird charakterisiert durch Aktivität, Inspiration, Atmosphäre, Offenheit, Vergnügen, Teilnahme, Diskussion, Freundlichkeit und Lockerheit. 


Stetigkeit (S)
zeichnet sich aus durch Engagement, Geduld, Stabilität, Gründlichkeit und Glaubwürdigkeit. 


Konformität (C = Compliance)
steht für Fakten, Grundlagen, Analytik, Systematik, Details, Ausdauer, Normen und Standards.


Durch diese Zuordnung liefert das Extended-DISC®-Verfahren detaillierte Aussagen über individuell bevorzugte, natürliche und aktuell gelebte Verhaltensmuster der befragten Mitarbeiter. Dabei benennt es sowohl motivierende als auch demotivierende Faktoren. Außerdem werden mögliche Verhaltensmuster der Befragten in Stresssituationen und deren Auswirkungen auf andere Personen analysiert. 


Ein besonderer Vorteil des Extended-DISC®-Verfahrens ist der ökonomisch vertretbare Aufwand: Die Beantwortung des Online-Fragebogens erfordert max. 20 Minuten. Zudem lässt er sich in über 55 Sprachen ausfüllen, was bei multinationalen Teams und Organisationen äußerst hilfreich ist. 


Unsere Praxiserfahrungen zeigen eine hohe Akzeptanz sowohl bei der Unternehmensführung als auch bei den befragten Mitarbeitern. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass das Verfahren die Verhaltensmuster der Befragten objektiv beschreibt, ohne sie zu bewerten. Die Beschäftigten erhalten zugleich konkrete Hinweise, wie sie ihr Verhalten in Situationen anpassen können, die ihnen aufgrund ihres Persönlichkeitsprofils Schwierigkeiten bereiten.


Als wichtige Basisinformation für die Entwicklung eines Organisations-Thermometers liefert das Extended-DISC®-Verfahren pro Teammitglied sowohl ein natürliches als auch ein angepasstes DISC-Persönlichkeitsprofil. Verhält sich eine Person in ihrem sozialen Umfeld authentisch, weicht ihr natürliches Verhalten höchstens graduell von ihrem angepassten Verhalten ab, vgl. Grafik 1.


Verhält sich eine Person jedoch nicht authentisch, unterscheidet sich ihr aktuell gelebtes von ihrem natürlichen Persönlichkeitsprofil, bspw. indem die Reihenfolge der Persönlichkeitsausprägungen wechselt oder einzelne Verhaltensweisen sehr stark über- oder unterbetont sind. Damit liefert das Verfahren wichtige Aussagen über
–    natürliches und angepasstes Verhalten,
–    Stärken-/Schwächenprofil der jeweiligen Person,
–    Verhaltensweisen des Mitarbeiters unter Druck,
–    Einfluss des Umfelds auf die Motivation der Person,
–    Stresslevel in konkreten Situationen,
–    individuelle Stress verursachende Faktoren.


3. Praxisbeispiel: Konfliktlösung


Ein Anwendungsgebiet des Organisations-Thermometers ist die Konfliktlösung. Dazu folgender Fall: Im Rahmen einer Nachfolgeregelung wurde ein externer Kandidat Vorstandsvorsitzender (CEO) einer Maschinenbau Holding. An ihn berichteten die zehn Geschäftsführer der Holdingfirmen. Nach anfänglich guter Zusammenarbeit kam es zu Kommunikationsproblemen zwischen dem CEO und einzelnen Geschäftsführern. Daraufhin unterzog man den CEO und alle Geschäftsführer einer Extended-DISC®-Analyse. Das Profil des CEO zeigte folgendes Verhaltensmuster vgl. Grafik 2:


    Natürliches Profil:
Der CEO hat ein DC-Profil, d. h. er ist ein rationaler Macher-Typ, der seine Themen mit ganzer Kraft voranbringt, wenn er von seinem Vorhaben logisch und faktenbasiert überzeugt ist. Allerdings hat er Schwierigkeiten, andere Menschen emotional anzusprechen und zu begeistern (geringe I-Ausprägung).


    Angepasstes Profil:
Der CEO lebt seine präferierte C-Verhaltensweise der rationalen, zahlen- und faktenbasierten Kommunikation aktuell nicht. Stattdessen legt er vor allem dominantere, direktive Verhaltensweisen an den Tag (erhöhte D-Ausprägung). Diese Tendenz zeigt sich im Arbeitsalltag z. B. daran, dass ihn die zahlreichen Meetings anstrengen, weil die Kommunikation keine seinem DISC-Profil entsprechende Form i. S. eines reinen Faktenaustauschs darstellt, sondern eher der emotionalen Überzeugungsarbeit (Überbetonen des Faktors I) dient.


Bei einem Vergleich der natürlichen und der angepassten Verhaltensstile der zehn Geschäftsführer fiel dann auf, dass vor allem diejenigen, deren Verhaltensweise durch den Faktor C bestimmt wird, ihre damit verbundenen Eigenschaften in ihren angepassten Verhaltensweisen zurücknahmen. Ihre Profile ließen daher auf eine massive Unsicherheit mit hohem Stressfaktor schließen. Die Geschäftsführer jedoch, deren natürliche Profile dem des CEO ähnelten, wiesen keine derartigen Veränderungen auf. 


Im nächsten Schritt wurde eine Extended DISC®-Teamanalyse aller elf Manager durchgeführt, vgl. Grafik 3. Der sog. DISC-Diamant setzt sich aus den vier Polen D, I, S und C zusammen, die jeweils die beschriebenen elementaren Persönlichkeitsbereiche repräsentieren. Die roten Punkte illustrieren, wo die einzelnen Personen mit ihren Kompetenzprofilen einzuordnen sind. Die radiale Positionierung ist ein Maß dafür, über welche bzw. wie viele Verhaltensweisen aus dem jeweiligen DISC-Spektrum eine Person verfügt. Liegt bspw. bei einer Person ein Punkt im unteren linken Dreieck, handelt es sich um einen 100%igenS-Typ. Befinden sich die Merkmale jedoch in den zwei Vierecken darüber, hat man es mit einem SI- bzw. SC-Typ zu tun.


Die Geschäftsführer, deren Profile im schattierten Kreis liegen, sind genau diejenigen, die ihre ausgeprägten natürlichen C-Verhaltensweisen im angepassten Profil am meisten zurückfahren. Sie sind damit konfrontiert, dass ihnen der CEO die (Hintergrund-)Informationen, die ihnen wichtig sind, um ihre Unternehmen zu steuern, aufgrund seiner eigenen reduzierten C-Verhaltensweise vorenthält. Durch seinen künstlich verstärkten direktiven Führungsstil verschärfte er die Situation sogar weiter.


Konfrontiert mit dem Ergebnis, war der CEO sichtlich überrascht, dass seine mangelnde bzw. intransparente Kommunikation die atmosphärischen Störungen im Führungskreis verursacht hatte. Er war jedoch zugleich auch erleichtert, dass der Grund für die Konflikte so klar
erkennbar war, dass sich Lösungsvorschläge erarbeiten ließen. Eine Handlungsempfehlung lautete, ein elektronisches Management-Informations-Board im Intranet einzurichten, auf dem alle wichtigen Informationen zeitnah veröffentlicht werden. Parallel dazu erhielt der CEO ein intensives Coaching für eine effektivere Kommunikation mit seinen Geschäftsführern. 


4. Praxisbeispiel: Optimierung des Recruiting-Prozesses



Ein weiteres Anwendungsgebiet des Organisations-Thermometers ist das Recruiting. Es verfeinert den Auswahlfilter bereits in einem möglichst frühen Stadium des Bewerbungsprozesses. Dazu folgendes Beispiel: Die Vertriebsleitung eines IT-Unternehmens suchte nach zeit- und kostengünstigen Auswahlparametern zusätzlich zu den subjektiven Eindrücken der Personalverantwortlichen. Dafür wurden zunächst die DISC-Profile aller Vertriebsmitarbeiter im Rahmen eines Benchmarkings in Bezug zu ihrer Produktivität (Umsatz, Gewinn etc.) gesetzt.


Insbesondere Bereiche wie Vertrieb, Service und Beratung eignen sich für ein derartiges Benchmarking, da alle Mitarbeiter vergleichbaren Rahmenbedingungen ausgesetzt sind und sich ihre Performance transparent über Kennzahlen (Umsatz, Servicequalität, Kundenzufriedenheit etc.) messen lässt.


Anschließend stellte man alle Personen, deren Erfolgsmaßzahl einen Schwellenwert von mindestens 75 % erreichten, in einer sog. Schrotflinten-Karte dar, vgl. Grafik 4. 


Eine erste Analyse der Profilverteilung brachte jedoch keine eindeutige Clusterbildung von erfolgreichen Vertriebsmitarbeitern. Ein Indiz konnte jedoch sein, dass die meisten erfolgreichen Vertriebler das Merkmal D entweder als primäre oder zumindest als sekundäre präferierte Verhaltensweise aufwiesen. Im nächsten Schritt wurden die Abweichung zwischen dem angepassten und dem natürlichen Verhalten sowie der Stresslevel verglichen, s. Grafik 5. 


Alle Personen, die sich authentisch verhielten (= geringer Stresslevel), leisteten zwar einen hohen Arbeitseinsatz, empfanden dies jedoch nicht als Belastung bzw. Stress – und hatten eine stark ausgeprägte Dominanz. Damit erhärtete sich das erste Ergebnis der Profil-Analyse. Bei den befragten Personen mit mittlerem bis hohem Stresslevel könnte der hohe Arbeitseinsatz dagegen auf Dauer zu einem Burn-out-Syndrom führen.


Die Analyse zeigte somit deutlich, welche Faktoren die Personalverantwortlichen bei der Auswahl neuer Mitarbeiter für den Vertrieb zukünftig berücksichtigen sollten. 


5. Fazit



Wenn es darum geht, atmosphärische Störungen im Betriebsklima zu erkennen und zeitnah sowie kostengünstig zu beseitigen, ist das Organisations-Thermometer ein geeignetes Werkzeug. Es zeigt sowohl auf individueller als auch kollektiver Basis Stress- und Belastungslevel sowie deren mögliche Ursachen an. In Verbindung mit einem Benchmarking lässt es sich einsetzen, um erfolgreiche Verhaltensmuster zu identifizieren. Zudem kann diese Methode auch im Rahmen des Recruitings als ergänzendes Auswahlverfahren Fehlbesetzungen vermeiden.


Dr. Thomas K. Heiden,

Partner und Gründer der 
Personalberatung heiden associates, Berlin/Wiesbaden